„Tarantella e tammurro“ in den Neapel-Programmen von Italien Erleben:
Auf dem Bild tanzt Pina Andelora die Tarantella vor dem „basso“ im Vico Pazzariello. Der Strassenkünstler Angelo Picone und seine Partnerin Pina Andelora bieten ein abendfüllendes Programm für uns Touristen an. In verschiedenen Programmen verkörpert Angelo traditionelle Figuren der neapolitanischen Volkskultur. Seinen Ort hat er im Vico Pazzariello gefunden, in einem typischen „basso“ im centro storico von Neapel. Über Pina Andelora lesen Sie weiter unten im Text.
Eine Sequenz des Programmes ist jeweils der Tarantella gewidmet, die zum Rhythmus des „tammurro“ getanzt wird.
In jedem unserer Neapelprogramme erwartet unsere Gäste ein Abend mit „Tarantella e tammurro“. „Was steckt hinter dieser Ankündigung?“ fragen Sie sich vielleicht? Können Sie sich darunter etwas vorstellen?
Tarantella, da stellte ich mir einen Tanz vor, bei dem man rumspringt, als ob man von der Tarantel gestochen worden sei. So will es der Spruch in unserer Sprache: „auffahren wie von der Tarantel gestochen“. So ganz falsch ist diese Vorstellung nicht, auch wenn sie eher zur „Pizzica“ passt. „Pizzica“ ist die Tarantella-Version, die in der Puglia zuhause ist. Sie hat ursprünglich die Aufgabe, schwermütige und verwirrte junge Frauen zu heilen. Junge Frauen litten oft unter dem sehr engen Spielraum, den ihnen ihre Rolle als Frau in ihrer Kultur zuliess, Bsp. Zwangsheirat.
Der Rhythmus der Pizzica ist doppelt so schnell wie derjenige der Tammurriata Campana. Mit dem schnellen Hüpfen und der treibenden Musik sollte das „Gift“ aus dem Körper der jungen Frau herausgetrieben werden.
Der Grundschritt der Tarantella Campana ist einfach, wie bei den galanten höfischen Tänzen: ein Schritt vor, ein Schritt zurück, wiegend, immer so weiter.
Nun kommen die Arme dazu. In den Fingern hält man die „Nacchere“ fest, ähnlich den spanischen Castagnetten. Diese schlägt man im Rhythmus der begleitenden Musik an.
Die Begleitmusik wird gespielt vom „tammurro“ (Tamburin), der Handorgel, die einen immer wiederkehrenden, einfachen Reim spielt, und von dem monotonen Gesang der Männer.
Wir haben also den Grundschritt, und nun heben wir die Arme, immer mit den „nacchere“ klappernd. Wir heben die Arme so, als ob wir in den Bäumen Kirschen, Pflaumen, Aprikosen oder andere Früchte pflücken würden. Wir ernten und wiegen dabei zum Grundschritt mit dem Oberkörper hin und her. Wir führen die Hände am Mund vorbei – nun essen wir die Früchte – und dann senken wir die Arme, um den Stein, das Kernhaus, die Überbleibsel der Früchte, wegzuwerfen. Ganz unten angekommen sammeln wir Korn. Wir heben und senken die Arme mit dem Oberkörper wiegend zum Grundschritt, vor und zurück. Wir drehen uns nach Lust und Laune, immer mit denselben Grundbewegungen. Das ist jedoch erst der Anfang.
Bilder: Angelo erklärt Grundschritte und Armbewegungen der Tarantella:
Die Tarantella ist Teil der antiker Fruchtbarkeitsrituale. Wir tanzen sie mit Vorteil zu zweit. Die selbstverständlichste Kombination ist Mann mit Frau. Beide haben dieselben Grundbewegungen, sie wollen einander verführen, langsam, gemessen, sorgfältig. Sie tanzen immer Auge in Auge, ob sie sich nun drehen, ob sie Schulter an Schulter gelehnt rückwärts gehen, oder ob sie einander mit weitgreifenden Armbewegungen „umarmen“, ohne einander je zu berühren.
Sie bringen die Atmosphäre zwischen sich zum Vibrieren. Mal sind die Arme hoch in der Luft, beim Pflücken, mal sind sie fast am Boden, beim Lesen. Immer spielt die monotone Musik weiter, treiben der Rhythmus des „tammurro“ und der für unsere Ohren merkwürdig jammernde Gesang der Männer die Tänzer an.
Zwei Berührungen sind erlaubt: man hängt sich Kniekehle in Kniekehle ein und hüpft so rundum, oder man lehnt die eine Schulter an die Rückseite einer Schulter des Partners und dreht sich so rundum. Die eine Person tanzt dabei vorwärts, die andere rückwärts.
Kunstvoll ist das, und dabei soll man sich immer in die Augen schauen!
An den Abenden bei Angelo Picone und Pina Andelora lernen wir die Tarantella sicher nicht bis zur Vollkommenheit. Einem Paar zuzusehen, das diese Tanzform beherrscht, dabei das ruhige, intensive und endlose Werben zu erleben, ist faszinierend. Ab und zu tanzt eine Truppe geübter Tänzer auf der Piazza San Domenico Maggiore. Ich hatte das Glück, einem in den Tanz versunkenen Paar zuzuschauen. Das war sehr gemessen und konzentriert schön.
Weshalb bietet Angelo diese Abende mit der Einführung in den Tanz der Tarantella in seinem „basso“ an, für uns Touristen? Ist es Folklore? Warum gehen wir hin?
Ich kann für mich antworten: ich gehe hin, weil es mir einen tieferen Einblick gibt in die Kultur des campanischen Volkes, die von allen Völkern des Mittelmeeres geprägt ist, allen voran von den antiken Griechen. Diese gründeten und prägten die Stadt Neapel, vor ca. 2500 Jahren.
Die neapolitanische Kultur ist voll ursprünglich heidnischer Rituale, die im Christentum weiter gepflegt wurden, eingebettet in die christlichen Kulte:
In einem der Dörfer vor Neapels Toren wird nach Ostern eine Woche lang Tarantella getanzt, zwischen Prozessionen. Man singt und tanzt bis zur Trance. Ich habe Videoaufnahmen gesehen von solchen Festen. Es sieht alles ganz ruhig aus. Wenn man selber tanzt, immer dieselben Bewegungen wiederholt, sich gemessen wiegt zu den Rhythmen des „tammurro“, spürt man, wie man erst müde wird, kaum mehr mag. Dann tanzt man weiter, auf einmal wird der Tanz leicht, die Schwere des Körpers ist für einen Moment überwunden.
Bei diesen Festen wird viel Wein getrunken. Sie sind dionysischer Natur, obwohl Marienfeste. Einst feierte man so zu Ehren des griechischen Gottes Dionysos. Dionysos ist in der antiken griechischen Kultur der Gott der Weintraube, der Ernte, der Winzer. Er ist Gott der Fruchtbarkeit, des Vergessens, der Verrücktheit, des Theaters und der religiösen Ektase.
Angelo erzählt, dass jeden Frühling bis Ende Juni in sieben Dörfern rund um Neapel die Marienfeste mit „tarantella e tammurro“ gefeiert werden. Es sind Feste zur Verehrung der Maria. Früher opferte man der Göttin Demeter und dem Gott Apollo. Demeter ist die Göttin der Landwirtschaft, der Erde, der Fruchtbarkeit. Apollo steht für die Sonne, die Kunst, die Musik, die Heilung (Medizin), der Wahrsagung, und er steht für die Wissenschaften, die den Geist erhellen. Maria anstelle von Demeter, verantwortlich für Fruchtbarkeit in jedem Sinn? Eine interessante Möglichkeit.
Was führt Angelo dazu, uns Touristen ins Tanzen der Tarantella einzuführen und uns Geschichten zu erzählen? Es sind alles Geschichten des einfachen Volkes von Neapel und der Campania.
In seinen Worten: Angelo will die Tradition aufrecht erhalten, die tiefe Verwurzelung in der Geschichte des Territoriums zeigen. Er will uns diese Erfahrung und das Wissen um die Tradition weiter geben, sie erinnern, sie erhalten. Und weiter: er will sie neu erzählen und sie neu beleben.
Pina Andelora, *“La Perzechella“, lange tätig als hervorragende Chocolatière, tanzt mit uns die Tarantella. Sie bewirtet alle Gäste,
und führt ihr Teatrino. Im Vico Pazzariello führt sie zudem ein B&B für Strassenkünstler und junge Leute
jeden Alters.
Pina singt uns Lieder vor, die ihr ihre Grossmutter vorgesungen hat. Sie kocht für uns jeweils typische
neapolitanische Gerichte: da ist der „Ragù alla Napoletana“, mal mit, mal ohne Fleisch. In diesem Fall spielen panierte Brotklösse
die Fleichkugeln, überzogen von der lange geköchelten Tomatensauce. So war und ist das bei den armen Leuten. Das ist dann der „finto ragù“, der vorgetäuschte Ragù. Es gibt viele weitere „finte“ Speisen in der Küche des „popolo“.
Weiter gibt es „zucchettini alla scapece“, „friarielli“* mit peperoncino mit und ohne salsiccia (Wurst),
und Pinas Variante der unvergleichlichen „parmigiana alle melanzane“.
*Friarielli ist ein leicht bitteres Broccoligemüse, das jetzt langsam in unseren Supermärkten in der Schweiz auftaucht.
Die apulische Variante, „cima di rapa“, habe ich bereits gefunden, die „friarielli“ in der Schweiz noch nicht.
Friarielli findet man in den Restaurants in Neapel meist unter den Beilagen.
Mein Tipp: unbedingt probieren. Seit ich dieses Gemüse kenne, fehlt es bei keiner Gelegenheit. Es ist zart, angenehm bitter und bekommt mit dem „peperoncino“ die leichte Schärfe, die den Geschmack fabelhaft abrundet.
In einem Blog im Netz habe ich die Zubereitung schön formuliert und fotografiert gefunden:
http://www.anies-delight.eu/2010/10/friarelli-cime-di-rape-broccoletti-spargelkohl-und-co/
Im Vico Pazzariello führt uns Angelo auch die traditionelle Figur des Pazzariello vor. Pazzariello war der Ausrufer, ein Herold, der die Eröffnung von Geschäften laut publik machte. Mit populären bis deftigen Versen und Sprüchen und mit Musik begleitete er die Eröffnung von Geschäften und brachte dabei alle Beteiligten zum Lachen – „pubblicità“ – Marketing war seine Aufgabe.
Mehr zu den Figuren des Pazzariello und des Pulcinella lesen Sie in der nächsten Ausgabe dieser Seite.
Zudem ein originales Rezept zur Herstellung der delikaten „Zuchini alla scapece“.
Zurück zur Tarantella Campana: meine kleinen Filme sind aus Gründen des Datenschutz nicht geeignet zur Veröffentlichung.
Auf Youtube habe ich folgende Titel gefunden, die gut zeigen, wie die Tarantella Campana getanzt wird.
Bei Interesse schauen sehen Sie sich auch einen der Beiträge an zum Fest der Madonna delle Galline im Dorf Pagani.
Viel Vergnügen, und herzlich, bis zur nächsten Ausgabe!
Beatrice Ruef
Hinweis Tarantella bei Youtube:
Wie die Tarantella in Kampanien junge Musikerinnen inspiriert, hören und sehen Sie auf diesem Video mit dem Titel
„Taranta 2015 – Le Ninfe della Tammorra – L’aria de lu mare (Tammurriata, World Music Italy)“
Weitere Titel auf Youtube, die Ihnen die campanische Tarantella oder „Tammuriata“ authentisch zeigen